Wer hat Angst vor Naturwein?

Ich bin ehrlich: Manchmal fürchte ich mich vor dem Erlebnis «Naturwein». Oder besser gesagt, meine Geschmacksknospen fürchten sich. Die sensiblen, auf aromatischen Hochgenuss getrimmten und unverschämt verwöhnten, kleinen Knubbel.

Eine pauschale Verurteilung wird der Sparte Naturwein aber nicht gerecht. Das haben Pauschalisierungen wohl so an sich. Ohne klare gesetzliche Grundlage produziert, ist das Spektrum an Naturweinen unendlich gross.

Da gibt es die hervorragenden, «sauber» produzierten Gewächse von langjährigen Winzer/innen, die aus dem konventionellen Weinbau kommen und mit sehr viel Fachkenntnis und Hingabe, im Einklang mit der Natur produzieren - biodynamisch oder auch sogenannter «Low-Intervention-Wein» (für die Ungeduldigen: Beispiele für solche Naturweine finden sich am Ende des Textes).

Und dann ist da der andere, aromatisch weniger ansprechende Teil der Naturweinszene. Vielleicht am ehesten als Klischee des wohlstandsverwahrlosten Investmentbankers zu beschreiben, der als neues Statussymbol sein Aussteigertum mit der Herstellung eines hippen Naturweins zelebriert. Das dafür notwendige Fachwissen verhält sich dabei reziprok zur Grösse des jeweiligen Egos… Man verzeihe mir den Seitenhieb (Beispiele solcher Naturweine finden sich KEINE im Text).

Wir driften ab. Dieser Beitrag ist eine Annäherung an das Phänomen Naturwein, an das Aromaprofil; wieso Naturweine das letzte grosse Abenteuer der Weinwelt sind und was das Phänomen mit dem fünfmal zum besten Restaurant der Welt gewählten Noma in Kopenhagen zu tun hat.

Von Christof Zeller DipWSET, Weinakademiker

 

Naturwein, der wilde Westen des Weins und der Duft nach Freiheit

Das sich die Überwindung der Furcht, der Sprung ins Unbekannte und das Verlassen der Komfortzone lohnen und zu Hochgenuss führen können, ist eine Binsenweisheit. Offensichtlich sind Naturweintrinkerinnen und -trinker also die letzten Abenteurer der Neuzeit, die Entdecker der noch unbekannten, weissen Flecken auf der Genusslandkarte. Doch wonach riecht dieses Abenteuer?

Die Naturweinproduzentinnen und -produzenten sind, als Gegenstück, die letzten Gesetzlosen im Wilden Weinwesten. Was Naturwein so unberechenbar und seine Aromatik so häufig willkürlich erscheinen lässt, ist die Vielzahl an Spielarten, welche unter der Bezeichnung Naturwein zusammenfinden.

Das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage schafft Raum für Neues, im Guten und auch im weniger Guten. Ganz bestimmt erschwert die fehlende gesetzliche Grundlage eine Strukturierung der am Markt erhältlichen Produkte. Die Suche nach Konstanten, insbesondere hinsichtlich der Aromatik, ergibt einen ersten Anhaltspunkt: Naturwein entsteht grundsätzlich ohne (chemische) Zusätze in Rebberg oder im Weinkeller. So natürlich wie möglich eben. Was das heissen kann, beschreibt zum Beispiel das «Reglement für die Herstellung von Naturwein in der Schweiz» (es handelt sich um Empfehlungen eines Vereins, nicht um ein Gesetz). Kurz auf den Punkt gebracht: Im Rebberg bedeutet dies Verzicht oder ein Minimum an Spritzmitteln, Chemie, Dünger und viel Handarbeit. Im Weinkeller wird auf Reinzuchthefen verzichtet, man arbeitet mit Naturhefen aus dem Rebberg, die Gärung erfolgt ohne Intervention und abgefüllt wird das unfiltrierte und ungeschönte Naturprodukt. Die Verwendung von Schwefel ist verpönt; es wird verzichtet oder der Einsatz auf ein absolutes Minimum reduziert.

Dieser Grundsätze im Herstellungsprozess haben zwei hauptsächliche Konsequenzen für die Weinaromatik und das Trinkgefühl. Schwefel ist ein Stabilisator, der verhindert, dass der Wein mit dem Sauerstoff reagiert. Wird er weggelassen besteht das Risiko, dass der Wein unerwünschte, oxidative Aromen entwickelt. Als zweiter charakteristischer Faktor für Naturwein gilt die Spontanvergärung mit Naturhefen (das Gegenteil von Reinzuchthefen). Diese Hefen entstehen im Keller und im Rebberg.

Durch den Verzicht auf Schwefel und durch die Spontanvergärung erhält man eine Fülle an altbekannten und auch ungewohnten Aromen, sehr lebendige Weine, eine grosse Komplexität, Spannung im Gaumen, Tiefe, Einzigartigkeit und im besten Fall authentische Terroirweine; auf jeden Fall aber ein absolutes Naturprodukt.

Eine weitere Seite der Medaille: Die Naturhefe und eine allfällige Oxidation können für konventionelle Weingeniesser/innen ungewöhnliche Aromen mit sich bringen: Aromen von leicht vergorenen Mostäpfeln («Cidre»), dem fermentierten Getränk «Kombucha» oder im Extremfall etwas «Kimchi-Geschmack» (fermentierter Kohl), getrocknetes Heu einer Alpwiese mit weidenden Kühen, Dörrfrüchte und – insbesondere durch Oxidation – Marzipan und flüchtige Säure (das erinnert manchmal an Essig).

Naturwein ist also erst einmal Weglassen der Errungenschaften des modernen Weinbaus und der Verzicht auf einen Grossteil der Möglichkeiten, welche die heutige Kellertechnik und Weinbereitung bieten. Es ist Hedonismus in puristischer Form - der bewusste Entscheid, eine aromatische Kutschenfahrt zu unternehmen, obwohl das Auto in der Garage steht.

Naturwein, Natural Wine, sulfitfreie Weine, Orange Wine, veganer Wein, Pét Nat (Pétillant Naturel), Quevri Wein (Amphorenwein), Artisan Wine, RAW Wine und Naked Wine

Eine überfordernde Vielzahl an Begriffen und Spielarten, welche unter der Bezeichnung Naturwein zusammenfinden - ein Versuch der Einordnung und die erneute Suche nach Gemeinsamkeiten.

Ob bereits biologische Weine zu den Naturweinen zu zählen sind? Wohl eher nicht. Biodynamische Erzeugnisse, auch Demeterweine genannt, schon viel eher. Wobei hier entscheidend ist, ob die Traubenverarbeitung im Weinkeller ebenfalls nach biodynamischen Kriterien erfolgt. Ein Beispiel dafür sind die Weine von Manincor. Quasi ein Naturwein für Anfänger/innen.

Aus Georgien stammt der wohl älteste Vertreter, im Zusammenhang mit der Naturweinkategorie. Der sogenannte Quevri Wein bzw. Amphorenwein will so gar nicht zum aktuellen Naturweintrend passen, wird er doch seit Jahrtausenden gleich hergestellt – mangels moderner Rebbergbewirtschaftung und Kellertechnik eben sehr natürlich. Für seine Herstellung werden Tonamphoren verwendet (ursprünglich wurden diese in der Erde vergraben). In die Amphoren kommen sowohl Saft, Traubenhäute, die Stielgerüste und auch die Kerne, welche alle unter weitgehendem Sauerstoffabschluss zusammen vergoren werden. Vollreifes und gesundes Traubenmaterial ist hier zentral, um Fehlaromen zu vermeiden. Es bedarf grosser Erfahrung, um mit diesem Herstellungsprozess gute Weine zu produzieren. Dem Tröpfltalhof (siehe obiges Bild) in Kaltern gelingt dies in bewundernswerter Weise. Die Aromen und vor allem auch die Weinstruktur sind sehr eigenwillig, da durch die Maischegärung in den Tonamphoren auch Gerbstoffe, Gerbsäure und salzige Nuancen im Wein gelöst werden.

Zwischen Amphorenwein und Orange Wine oder auch Orangewein bestehen Schnittmengen. Und zwar werden bei beiden Herstellungsmethoden sowohl Saft, Traubenhäute, die Stielgerüste und auch die Kerne mitvergoren, also eine lange Maischegärung gemacht, was für Weissweine untypisch ist. Orange Wine erhält dadurch seinen Namen, dass sich der ursprünglich aus Weissweintrauben gewonnene Traubensaft durch die Maischegärung leicht orange verfärbt - mit den hiervor erwähnten Konsequenzen für das Aromaspektrum. Ob es sich dabei um einen Naturwein handelt, hängt von der Produktionsweise ab - es kann sich dabei um Naturwein handeln, muss aber nicht.

Sulfitfreie Weine sind nichts anderes als ungeschwefelte Weine; Sulfit ein anderes Wort für Schweflige Säure (SO2, E220). Schwefel ist ein Konservierungsmittel, welches zum Schutz der Reben, auch natürlich in Traubenbeeren vorkommt (je nach Sorte in einer höheren oder tieferen Konzentration – teilweise so hoch, dass der Wein, obwohl nicht zusätzlich geschwefelt, nicht mehr als sulfitfreier Wein bezeichnet werden darf). Dieser Weinkategorie wird kein zusätzlicher Schwefel beigefügt. Ob weitere Aspekte der Naturweinproduktion zur Anwendung gelangen, ist den einzelnen Produzent/innen überlassen.

Der Pét Nat oder ausgeschrieben Pétillant Naturel ist ein Schaumwein; der Begriff bedeutet sinngemäss übersetzt «natürlich sprudelnd». Auch hier hat sich die Naturweinszene einer jahrhundertealten Weinbereitungstechnik aus Frankreich bedient. Im Gegensatz zur herkömmlichen Schaumweinproduktion (z.B. Champagner oder Prosecco), bei welcher mittels einer zweiten Gärung die Kohlensäure in den Stillwein gelangt, erfolgt dies beim Pét Nat in nur einer Gärung. Der Traubenmost wird mit der Hefe in die Flaschen gefüllt, die Flasche mit Kronkorken verschlossen und dann wird gewartet. In der Flasche entstehen Alkohol und als Nebenprodukt Kohlensäure, welche die Flasche nicht verlassen kann. Als Naturwein wird diese Spielart erst bezeichnet, wenn ohne oder nur mit minimalen Zusätzen in Rebberg und Keller gearbeitet wurde. Bereits vom Schweizer Sternekoch Andreas Caminada als Weinbegleitung eingesetzter Pét Nat gibt es vom Röckhof in Villanders.

Ob vegane Weine zu den Naturweinen gezählt werden sollen? Grundsätzlich werden diese Weine ohne tierische Hilfsmittel produziert. Das hört sich selbstverständlich an, war es jedoch lange Zeit nicht. Zur Klärung der Weine wurden Blut, Eier oder Schwimmblasen von Fischen benutzt. Heute kommen chemische Ersatzstoffe zum Einsatz.

Attraktive Namen sollen neuen Produkten leichter zum Durchbruch verhelfen. Wohl auch eine der Überlegungen in der frühen Naturweinszene, als die Begriffe RAW Wine und Naked Wine geprägt worden sind. Immerhin liegt in der Doppeldeutigkeit auch eine der heute noch bei der Naturweinkategorie als Grundsatz angewandte Produktionstechnik, nämlich die natürliche, rohe und nackte Bewirtschaftung und Verarbeitung der Trauben. Obwohl noch heute auf der ganzen Welt jährliche RAW Wine Messen stattfinden, sind diese Begriffe - zumindest im deutschsprachigen Raum - nicht mehr gebräuchlich. Inhaltlich decken sie sich weitgehend mit den Bezeichnungen Naturwein, «low-intervention-wine» oder Natural Wine.

Die heute gebräuchlichsten Bezeichnungen, in unterschiedlichen Sprachen oder graduell abgestuft nach Konsequenz in der Haltung der Winzer/innen sind Naturwein, Natural Wine, Artisan Wine und naturbelassener Wein. Allen diesen Weinarten gemeinsam ist der bereits erwähnte, ganze oder teilweise Verzicht auf jegliche Zusatzstoffe, Dünger, Chemie UND - ein weiteres zentrales Element im Naturweinbereich - die Belassung der Inhaltsstoffe im Wein. Es ist offensichtlich, dass diese Produktionsweisen auf reiner Handarbeit beruhen und ein grosses Ausfallrisiko beinhalten, da Fehler im Rebberg und bei der Traubenverarbeitung nicht durch chemische Zusätze oder physikalische Filterverfahren im Keller korrigiert werden können (was in der konventionellen Weinproduktion bis zu einem gewissen Grad möglich ist). Gute Beispiele qualitativ hochwertiger Naturweine sind u.a. beim aktuellen Shootingstar der Südtiroler Naturweinszene, bei Pranzegg zu finden.

Die Ursprünge des Hypes um die Naturweine

Jeder Hype hat einen Anfang. An diesem Punkt müsste deshalb die Diskussion um den «Erfinder» der heutigen Naturwein-Stilistik einsetzen. Ein Wettstreit der Meinungen, der wohl nicht zu gewinnen ist. Ich möchte mich diesem enthalten, zumal er mir auch nicht allzu originell oder inhaltlich weiterführend erscheint.

Meine Hypothese zielt vielmehr darauf ab, eine Ursache für diese urknallartige, globale Verbreitung eines ursprünglich als Randnotiz lediglich im kulinarischen Zirkus stattfindenden Phänomens zu identifizieren: Geht es um die Verbreitung aromatischer Trends, findet man die entsprechenden Mechanismen regelmässig in der Spitzengastronomie: Was Paul Bocuse für die Nouvelle Cuisine, Ferran Adrià für die Molekularküche oder der Schweizer Dreisternekoch, Daniel Humm, für die vegane Küche, das waren Pontus Elofsson und ganz fundamental Mads Kleppe, die Head Sommeliers des Restaurants «Noma» in Kopenhagen – dem Restaurant, welches insgesamt fünf Mal zum besten der Welt gewählt worden ist. Da die üblichen, konventionellen Weine aus dem Burgund, Bordeaux, den USA oder Australien nicht zur Skandinavischen Küche passten, machten sie sich auf die Suche nach neuen Weinstilen, welche filigraner, eleganter, mineralischer und säurebetonter waren als die aufgezählten Preziosen. Und fündig wurden sie schliesslich bei der Kategorie der Naturweine.

Und was macht man, wenn man sein eigenes Restaurant gut im Markt positionieren will? Wahrscheinlich immer auf die eine oder andere Art versuchen, die Besten zu kopieren. Der Rest ist Geschichte…

Wer Teil dieser Geschichte werden will, wird in der Kategorie Naturweine glücklich. Weine unseres Lieblingswinzerpaars vom Weingut Abraham, welche eine besondere Affinität für die Spitzengastronomie haben, finden sich hier, im «Orange Wine»-Bereich zeichnet sich die Upupa-Selektion besonders aus.

Wir empfehlen, nicht beim allfälligen ersten Fehlversuchen aufzugeben, sondern sich mit seinen Vorstellungen und Wünschen einem kompetenten Weinspezialisten anzuvertrauen. Schreiben Sie uns eine Email an info@weinvogel.ch oder rufen Sie uns an (044 362 36 50).

Noch eine abschliessende Randnotiz zur Wahrung meiner juristischen Berufsehre: Regelmässig wird im gutgemeinten Halbwissen - auch unter Weinkennern - behauptet, es gebe vom INAO (das ist die heilige Instanz der Herkunftskontrolle in Frankreich oder eben das «l’institut national de l’origine et de la qualité») eine gesetzliche Grundlage für die Produktion von Naturwein («vin méthode nature»). Dem ist mitnichten so. Es handelt sich um absolute Minimalstandards, welche durch einen privaten Verband zur Wahrung des Naturweinerbes in Frankreich als Charta verabschiedet und vom INAO lediglich validiert worden sind. Die Minimalstandards verlangen die Handlese der Trauben, die Verwendung von 100 % biologisch produziertem Traubenmaterial, Verzicht auf Reinzuchthefe und keine Zusatzstoffe oder Schwefelbeigabe, weder vor noch während der Gärung.