DER ST. MAGDALENER UND DIE SCHWEIZ
Seit bald 200 Jahren gibt es in der Gegend von Bozen (I) einen Wein, der «St. Magdalener» genannt wird. Er ist eine Cuvée aus mehreren Vernatsch-Sorten (Abb. 1) und enthält bis zu 15% Lagrein, heute auch Pinot noir. Gerade weil die genetische Unterscheidung der verschiedenen Vernatsch-Sorten bis heute nicht restlos geklärt ist (Kästchen), bildete sich in früheren Jahrhunderten ein Sammelbegrif für diesen Wein heraus, der seine Herkunf aus der Region Bozen erklärte. Im Mittelalter nannte man den Wein der Einfachheit halber «Bozonarium» und tatsächlich finden sich Urkunden, dass bereits im Jahr 955 dem Kloster St. Gallen eine Ladung desselben geschenkt wurde. Später tauchte er in vielen Schrifen als wertvoller Wein auf und gelangte in die Gläser gekrönter Häupter wie
hoher Kleriker.
BEZIEHUNG ZUR SCHWEIZ
Gerade die Beziehung zur und in die Schweiz erreichten einige Jahrhunderte später aber eine schicksalhafe Abhängigkeit. Wie schon diese Zeitschrif in einem ausführlichen Artikel über das Südtirol im Jahr 1929 festhielt, gelangten schon zu jener Zeit neun Zehntel der St. Magdalener-Produktion von 4000hl in die Schweiz (SZOW, Feb. 1929, S. 38). Ein Hektoliter kostete rund 530 Lire, was etwa
140 Franken entsprach. Dazu kamen noch Import- und Zollkosten in der Höhe von
40 Franken, was einen Verkaufspreis von mindestens Fr. 2.10/L ergab. Wie der Autor Ulrich Schellenberg zusammenfassend konstatierte, kostete Qualität schon damals einen rechten Preis. Zum Vergleich: Für ein Kilo Schweinefeisch zahlte man in Basel um 1930 Fr. 4.60, für ein Kilo Brot zwischen 44 und 70 Rappen.
Um die Qualität zu halten, so erwähnte der als Zürcher Rebbaukommissär amtierende Schellenberg weiter, gäbe es Bestrebungen, den Anteil des Grossvernatschs einzugrenzen. Und an seine Schweizer Leserschaf gerichtet,
riet er, «alle Massnahmen zur Rationalisierung des Weinbaus zu ergreifen», um konkurrenzfähig zu werden.
ARLBERGTUNNEL
Die boomenden Handelsbeziehungen begannen mit der Eröfnung des Arlberg-Bahntunnels 1884. Allein zwischen 1886 und 1893 verdoppelte sich die Ausfuhr von Tiroler Weinen ins Land der Eidgenossen von 9700 auf 18 400hl. Zur Einordnung: Dies war ziemlich genau die Epoche, als Hermann Müller Thurgau die Geschicke der Versuchs- und Lehranstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau
in Wädenswil übernahm und gleichzeitig das Amt des Chefredaktors dieser Zeitschrif bekleidete. Dort reklamierte er mehrfach das qualitativ dürfige Niveau der einheimischen Weine. Es würde daher nicht verwundern, wenn der einem guten Glas Wein zugeneigte Forscher auch ab und an einen Südtiroler
Wein verkostet hätte. Und wenn er es tat, so schmeckte er sicherlich, dass sie nicht zu Unrecht ihren Ruf besassen.
SÜDTIROLER SAUSER
Noch vor dem Ersten Weltkrieg stieg das exportierte Volumen von Südtiroler Weinen in die Schweiz auf 40000hl, zwischenzeitlich nicht unbedeutend war die Menge zur Produktion des (weissen) Sausers, die via Schaan im Liechtenstein ins Land kam. Dort erfolgte auch das Pressen der Trauben und die Abfüllung in Korbfaschen. Bereits drei Tage nach der Traubenernte erhielten die Schweizer Weinhändler ihren gärenden Trauben most und konnten teilweise noch den gewünschten Gärzustand selbst bestimmen. Man kann sich lebhaf vorstellen, dass diese Praxis ab und an zu recht verunglückten Posten geführt haben dürfe. Entweder weil die Gärung zu früh und zu stürmisch vollzogen wurde, weil unerwünschte Hefen mitwirkten oder schlicht, weil schon bakterielle Verunreinigungen aufraten. Nichtsdestotrotz wurde die Rolle der Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der zollrechtlichen Trennung des Südtirols von Österreich noch grösser. Der Landstrich wurde bekanntlich Italien zugeschlagen und hiess fortan Alto Adige, was auch identitätsmässig grosse Konfikte auslöste.
WEINIMPORT G. VOGEL
Die Schweizer Weinimportfrma Georg Vogel, mit heutigem Sitz in Zürich an der –
nomen est omen – Weinbergstrasse, hat schon früh in der Handelsbeziehung zum
Südtirol entscheidend mitgemischt. Der heute 81-jährige Marco Vogel, noch immer täglich im Geschäf, kann sich gut erinnern, wie ihn sein Vater auf seinen Geschäfsreisen mitnahm. Die Anschafung von 4000-Liter Grossbehältern, die per Bahn transportiert wurden, war ein grosser Meilenstein in der Firmengeschichte (Abb. 2). So konnte eine beachtliche Menge Wein den verschiedenen Weinhändlern und Abfüllern geliefert wer den. Ende 1961 kaufe Senior Georg Vogel den Premstallerhof in St. Magdalena, einen 4-Hektar-Betrieb, dessen Vernatsch- und Lagrein-Trauben ans Weingut Rottensteiner geliefert und dort gekeltert werden. Nach wie vor wird ein gewisses Pensum dieser St. Magdalener-Weine in der Schweiz vermarktet.
SCHWEIZER ABHÄNGIGKEIT
Wie das lesenswerte Buch «St. Magdalener – der Wein aus Bozen» (Verlag Athesia) aufzeigt, rückte die Geschäfsverbindung in die Schweiz ab Mitte der 1920er-Jahre immer stärker ins Zentrum, ab 1940 (also auch während des Zweiten Weltkriegs) gehörten die Schweizer Weinhändler zu den Hauptkunden, erst recht später. Nach dem Krieg wurden Kompensationsgeschäfe mit der Schweiz getätigt: Südtiroler Wein gegen Schweizer Vieh. Zwischen 1950 und Ende der Sechzigerjahre wurden bis zu 90% des Südtiroler Weins in die Schweiz exportiert, mit der Zeit auch per LKW und nicht mehr per Bahn. Die Abfüllung erfolgte nach wie vor in der Schweiz. Damit hatten die Händler eine unerhörte
Marktmacht und setzen durch, dass alle Weine ein Ursprungs- und Analysezeugnis aufweisen mussten. Dies wohl aus dem einfachen Grund, weil die Qualität der St. Magdalener uneinheitlich war. Um das zuverhindern, wurde bereits 1924 ein Schutzkonsortium gebildet, das auch die Markenrechte regeln sollte. Doch ein italienisches Gesetz aus den 1930er-Jahren erlaubte eine
Erweiterung des Gebiets, was nicht nur qualitätsfördernd war. Als Gegenmassnahme gab sich das Stammgebiet rund um Bozen neu den Begrif «Classico». Unter dem Strich aber wuchs die Menge des «St. Magdaleners» von
15000hl (1955) auf 67000hl (1962). Dies bei einer Fläche von 301 ha. Es lässt sich leicht ausrechnen, dass somit pro Hektar über 20000Liter Wein entstanden. Von heutigem Qualitätsdenken war man also noch weit entfernt.
EINBRUCH
Dann kam der Absturz. Die Exportmenge wurde 1971 mit 79000hl angegeben, sodass auch Aussenstehenden und erst recht Einheimischen klar war, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Auch wenn das Gebiet durch Einbezug weiterer Gemeinden theoretisch auf 458ha vergrössert wurde, dürfe die zur selben Zeit eingeführte DOC-Mengenbeschränkung von 12500kg pro ha nicht eingehalten worden sein. Entsprechend war die Qualität sehr uneinheitlich, was dazu führte,
dass der Ruf des St. Magdaleners bzw. generell des Südtiroler Weins in der Schweiz eine bemerkenswerte Talfahrt erlebte. Für viele weinproduzierende Familien völlig unerwartet, sank die Nachfrage abrupt. Von 54000hl im Jahr 1972 auf 35000hl im Jahr 1975. Was war geschehen?
Abb. 1: Typische Pergelerziehung für den Vernatsch. (© O+W)
REBBAU IM WANDEL
Was die Südtiroler wohl nur am Rande mitbekommen haben dürfen: Auch in der
Schweiz machte der Weinbau in den 1960er und 1970er-Jahren einen entscheidenden Sprung. Technische Neuerungen dank moderner Maschinen erleichterten das Handwerk. Hinzu kam eine qualitative Entwicklung dank angewandter Forschung – nicht zuletzt von der Forschungsanstalt Wädenswil –, was die Weine markant verbesserte. In praktisch allen Schweizer Anbaugebieten stiegen deswegen die Produktionskosten, im Gegenzug aber sanken die Handarbeitsstun den (Quelle: «Schweizer Rebbau, Schweizer Wein», Ex Libris Verlag, 1980). Die Folge: Parallel zur Qualität stiegen auch die Preise. Und weil die Schweiz in diesen Jahren die Umwandlung eines Agrarlands hin zu einer
Industrienation erfolgreich absolviert hatte, waren auch die Löhne gestiegen. Somit gönnte man sich auch bessere und teurere Weine. Südtiroler Weine, die bis dato ofen importiert und in der Schweiz abgefüllt und häufg in der Literfasche verkauf wurden, kamen aus der Mode. Wie Marco Vogel betonte, war nicht nur die Qualität daran schuld, denn sie sei bei vielen Weinen durchaus gut gewesen. Es habe schlicht ein grosser Wandel bei der Produktion wie auch bei den Kundenbedürfnissen stattgefunden.
Sicher war diese Entwicklung für viele Südtiroler Winzerfamilien zuerst bedrohlich, doch sie zogen sich letztlich selbst aus dem Sumpf. So wurden Gegenmassnahmen eingeführt, die Auswirkungen zeitigten: 1973 wurde ein freiwilliges Konsortium für den Schutz der Weinproduktion von St. Magdalena-Bozen gegründet. Zusätzlich führte man eine Mindestgradation von 16.1 ° KMW ein (Grad Klosterneuburg, was in etwa 78°Oeentspricht), füllte in Siebendeziliter-Flaschen ab und erhöhte die Preise. Flankierend zu diesen Massnahmen wurden auch Werbemassnahmen für die Schweiz aufgegleist. Diese zeigten sich jedoch nur mässig erfolgreich. Anfangs der 1980er-Jahre wurden noch 22 000 hl exportiert. Und obschon es für die Südtiroler Winzer dank neuer Märkte wieder
aufwärts ging, da sie auch im eigenen Land besser Boden fassten (speziell im Weissweinbereich ist Südtirol auch heute noch die Nummer 1 in Italien), verschwanden die Schankweine aus den Schweizer Beizen. Erst seit die
Südtiroler Weine als Ganzes massive Qualitätszunahmen verzeichneten und auch beim renommierten Weinführer Gambero Rosso viele 3-Gläser-Auszeichnungen errangen,punkten sie im mittleren und höheren Preissegment. Zusammenfassend kann die gefährliche Abhängigkeit vieler Südtiroler Winzerfamilien vom Schweizer Markt auch als historische Zäsur gesehen werden, die letztlich den Weg zur heutigen Qualität ebnete. Dass im Sog dieser Entwicklung auch die St. Magdalener proftierten, lässt sich bislang nur qualitativ, aber nicht quantitativ belegen.
Abb. 2: Marco Vogel als Sechsjähriger auf dem familieneigenen Zisternenwagen. (© Archiv Firma G. Vogel)
DIE VIELEN GESICHTER DES VERNATSCH
Sie sei anfällig auf Mehltau, Stiellähme und
auch von der Kirschessigfiege «geliebt», die
Vernatschtraube. Doch bei genauerer Betrachtung fällt schnell auf: Eigentlich ist es unlauter, nur von einer Sorte zu sprechen. De facto sind es mindestens drei unabhängige Vernatschsorten, die hier mitspielen, auch wenn die eine den anderen im Laufe der letzten Jahrzehnte die Show stahl. Die Rede ist von Grossvernatsch (italienisch: Schiava grossa), von Grauvernatsch (Schiava grigia)
und Kleinvernatsch (Schiava gentile). Der gemeinschafliche Begrif Vernatsch referiert gemäss dem Buch «Wine Grapes» (Robinson, Harding and Vouillamoz: Wine Grapes, Penguine Books, 2012) aufs lateinische Wort «vernaculus», was so viel wie nativ oder einheimisch bedeutet. Durchgesetzt hat sich im Laufe der Zeit der Grossvernatsch, dessen Herkunf nicht gänzlich geklärt ist. Sein in Deutschland gebräuchliches Synonym ist Blauer Trollinger, was auf den Stamm Tirolinger zurückgeht. Sicher war die Verbreitung in früheren Jahrhunderten viel grösser und es zeigte sich mittels DNA-Analysen, dass er auch Elternteil des Kerner, der Bukettraube und des Muscat of Hamburg (zu dem es keinen ofziellen deutschen Namen gibt) war. Interessanterweise konnte der Schweizer
Ampelograph José Vouillamoz belegen, dass der Grossvernatsch sogar der Grossvater des Müller-Thurgau ist. Eine Kreuzung zwischen ihm und Pinot noir ergab die lange gesuchte, echte Vatersorte des Müller-Thurgau: die Madeleine Royale. Der Grossvernatsch dominiert heute zu fast 90%, mehrheitlich wird der Klon Laimburg 59 eingesetzt. Seine Trauben sind grossbeerig und der Ertrag ohne Gegenmassnahme massig. Sein Wein ist rubinrot, mit rotbeerigen
Anklängen und einem teilweise rustikalen Tanningerüst.
Quelle: Verfasser Markus Matzner, Erschienen OBST+WEIN | 1/2024, Titel: Der St. Magdalener und die Schweiz